Glenn Gould, die Beatles und Brian Wilson: Wenn Kunstmusik massenmedial wird

Von | Oktober 8, 2025

Das Ich im Medium

Zwischen Glenn Gould und der Popkultur besteht eine Verbindung, die weit über Stilfragen hinausreicht. Sie betrifft das Verhältnis von Werk, Medium und Subjektivität – also jene Struktur, in der populäre Musik massenmedial organisiert ist.

Im YouTube-Video mit dem Titel „I don’t hear Bach, I hear Glenn Gould“ wird eine Wahrnehmung formuliert, die Goulds Stellung exemplarisch beschreibt: Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr auf das Werk, sondern auf den Interpreten. Das Video wurde über 1,2 Millionen Mal aufgerufen – ein Hinweis darauf, dass auch Goulds Rezeption längst massenmedial geprägt ist. Bei Gould wird die Partitur zum Material seiner eigenen musikalischen Sprache. Das Werk fungiert als Vehikel seines Ausdrucks – nicht als heilige Instanz, sondern als Raum der Selbstverwirklichung.

Die Studioästhetik als künstlerischer Raum

Diese Haltung verweist auf eine zentrale Logik der Popkultur. In der Popmusik trägt die Selbstpräsenz des Interpreten die Bedeutung. Produktion und Person fallen zusammen. Goulds Arbeit im Studio folgt derselben Struktur: Montage, Wiederholung, klangliche Kontrolle. Das Ergebnis ist kein Abbild einer Aufführung, sondern ein konstruiertes Klangbild – ein Produkt künstlerisch-technischer Gestaltung.

Auch die Rezeption folgt dieser Logik. Gehört wird nicht nur eine Komposition, sondern eine Persönlichkeit im Medium. „Gould“ wird zur Marke, die Komposition zum Träger. Das Werk bleibt wichtig, doch es dient als Projektionsfläche einer interpretatorischen Signatur – so, wie Popmusik Authentizität durch Individualität erzeugt, obwohl sie massenmedial vermittelt ist.

Von der Bühne ins Medium

Goulds Verlassen des Konzertbetriebs symbolisiert die konsequente Hinwendung zur Massenmedialität. Er ersetzt den einmaligen Moment der Aufführung durch das reproduzierbare Medium, in dem er seine künstlerische Kontrolle maximieren kann. Der Rückzug von der Bühne ist kein Entzug von Öffentlichkeit, sondern ihre radikale Neuformulierung: weg vom Raum der Anwesenheit, hin zum Raum der technischen Vermittlung – dorthin, wo Pop entsteht.

Parallelen zur Kunstmusik – Pierre Schaeffer und das Klangexperiment

Diese Entwicklung lässt sich zugleich innerhalb der Kunstmusikgeschichte verorten. In derselben Epoche formt Pierre Schaeffer mit seiner musique concrète ein neues Verständnis des Musikalischen: Klang wird hier nicht gespielt, sondern aufgenommen, geschnitten und transformiert. Schaeffer verschiebt den Fokus von der instrumentalen Produktion auf die Arbeit am Tonband – das Studio wird selbst zum Instrument.

Was Schaeffer für das Geräusch tat, tat Gould für die Interpretation: Beide verlagern das Zentrum des Musikalischen vom performativen in den produktiven Raum. Klang wird nicht mehr als flüchtiger Moment verstanden, sondern als formbares Material. Diese Haltung legt die Grundlage für das, was Jahrzehnte später die elektronische Musik und insbesondere die elektronische Tanzmusik prägen wird: das Arbeiten mit Loops, das Kombinieren, Wiederholen und Neuordnen klanglicher Fragmente.

Schaeffer steht damit am Ursprung jener Ästhetik, in der das Fragment zum Stilmittel und der Schnitt zur kompositorischen Geste wird – eine Ästhetik, die Goulds Studioarbeit vorwegnimmt und die Pop- und Clubkultur bis heute bestimmt.

Das Paradox der Öffentlichkeit

Goulds Verhältnis zur Öffentlichkeit bleibt dennoch ambivalent. Er kritisiert die Masse, den „Mob“, verweigert die direkte Begegnung mit ihr – und wird gerade dadurch zu einer ihrer größten Ikonen. In dieser Spannung zwischen Distanz und medialer Präsenz spiegelt sich, was Theodor W. Adorno als Struktur der Kulturindustrie beschrieben hat: Die Massenmedien erzeugen (Pseudo-)Individualität, indem sie zugleich standardisieren. Goulds Selbstinszenierung funktioniert nach demselben Prinzip – sie lebt vom Widerspruch zwischen technischer Reproduzierbarkeit und elitärer Eigenständigkeit, zwischen öffentlicher Reichweite und radikalem Individualismus.

Virtuosität als Beiläufigkeit

Hinzu kommt die Inszenierung von Virtuosität als Beiläufigkeit. Technische Souveränität erscheint selbstverständlich, fast nebensächlich. Diese Nonchalance ist selbst eine Form der Inszenierung – ein Spiel mit Mühelosigkeit, das auch in der Popkultur zum Ausdrucksmittel wird.

Vom Studio zum Art Pop

In den 1960er-Jahren taucht diese Ästhetik in der Popmusik erneut auf. Brian Wilson führt das Studio als künstlerischen Raum fort und radikalisiert die Idee der Produktion als Komposition. Pet Sounds oder Smile entstehen nicht als Dokumente einer Band, sondern als klanglich konzipierte Werke eines Einzelnen. Die „Beach Boys“ sind in diesem Zusammenhang eher Medium als Urheber – Wilson ist die schöpferische Instanz, deren Bedeutung gerade aus dieser Übertragung des Kunstmusik-Ideals in die Popproduktion resultiert.

Die Beatles wiederum greifen bewusst auf die Kunstmusik zurück: orchestrale Arrangements, formale Experimente, serielle Strukturen, Zitate. Auch hier verschiebt sich die Popproduktion in den Raum des Konzeptionellen. In dieser Verbindung von technischer Kontrolle, konzeptueller Geschlossenheit und persönlicher Handschrift entsteht eine neue Hybridform – der Art Pop beziehungsweise Art Rock.

Gravitation und Emanzipation

Diese Phase zeigt, wie Pop sich emanzipiert, ohne die Gravitation der Kunstmusik gänzlich zu verlassen. Beide Sphären überlappen, sie ziehen einander an. Erst die späteren Jahrzehnte lösen dieses Feld endgültig auf: Die populäre Musik folgt heute weitgehend ihren eigenen medialen Gesetzmäßigkeiten – von algorithmischer Distribution bis zu ästhetischer Kurzform –, während die Kunstmusik ihre symbolische Schwerkraft verloren hat.

Gould markiert damit rückblickend jenen historischen Moment, in dem beide Systeme noch aufeinander reagierten: als Kunstmusik massenmedial wurde – und Pop begann, sich als Kunst zu verstehen.


Meta-Beschreibung:
Ein Essay über Glenn Goulds medienästhetische Radikalität, Pierre Schaeffers musique concrète und die Studio-Experimente von Brian Wilson und den Beatles. Eine Spurensuche im Übergang zwischen Kunstmusik, Pop und elektronischer Klangkultur.

Schlagwörter:
Glenn Gould, Pierre Schaeffer, Brian Wilson, The Beatles, Art Pop, Art Rock, Musique Concrète, Studioästhetik, Kulturindustrie, elektronische Musik, Massenmedialität, Musikgeschichte, Musikphilosophie

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